J. Osterhammel: Jacob Burckhardt und die Weltgeschichte

: Jacob Burckhardts "Über das Studium der Geschichte" und die Weltgeschichtsschreibung der Gegenwart Basel 2019 , ISBN 978-3-7965-4081-3 80 S.

: Weltgeschichtliche Betrachtungen. hg. von Jürgen Osterhammel. München 2018 , ISBN 978-3-406-71835-9 301 S.

von
Dietrich Pitt

Mit den hier anzuzeigenden, relativ kurzen Texten meldet sich ein Vertreter der von ihm selbst so genannten Weltgeschichtsschreibung der Gegenwart zu einem Historiker, den man zu den Vätern des heute noch ganz jungen akademischen Fachs rechnen könnte. Burckhardts Name taucht allerdings in den meist englisch verfassten Globalgeschichten kaum auf. Osterhammel weist damit auf eine empfindliche Lücke in der neueren Globalgeschichte hin.

Im Folgenden soll auf Inhalte aufmerksam gemacht werden, die Osterhammel in Bezug auf Burckhardt selbst offen lässt, die also Lücken der hier angezeigten Texte darstellen.

Die erste dieser Lücken zeigt sich in der Textbasis. Osterhammel beansprucht, nicht nur von Burckhardts «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» zu handeln, sondern auch von dem seit der Arbeit von Peter Ganz, also seit nunmehr 40 Jahren, zur Verfügung stehenden Originaltext der Vorlesung «Über das Studium der Geschichte». Was er auswertet und woraus er zitiert, ist aber ausschliesslich der Text der «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» in der unvollständigen Fassung von Jacob Oeri aus dem Jahr 1904. Manche der heiklen, nach Nietzsche «das Bedenkliche streifenden» Gedanken Burckhardts bleiben damit unberücksichtigt.

Die zweite Lücke betrifft «die von der preussischen Regierung und Armee gemachte grosse deutsche Revolution von 1866», also die «durch die Kriege seit 1864 abgeschnittene deutsche Crisis». Letztere hätte den Durchbruch Deutschlands zur «constitutionellen Freiheit» bedeutet, der Bismarck aber erfolgreich «begegnet» war («warum Krisen nicht begegnet zu werden pflegt?» hatte Burckhardt an einer Stelle gefragt, die Oeri nicht benutzt hat).

Als dritte Lücke muss die Nichtberücksichtigung dessen beanstandet werden, was Burckhardt über den drohenden Sozialismus beziehungsweise über den am Ende vielleicht doch triumphierenden Kapitalismus sagt. «Im 18. Jahrhundert», oder vielmehr, wie Burckhardt sich sofort korrigiert, schon mit dem «Freiheitskampf der Holländer und den zwei grossen Revolutionen der Engländer «beginnt, und seit 1815 eilt in gewaltigem Vorwärtsschreiten der grossen Crisis zu: die moderne Cultur». Osterhammel würdigt keine der beiden «Hauptkräfte» dieser Kultur, weder den «mit elementarer Leidenschaft» zu Weltstaat und Weltmarkt drängenden Kapitalismus der «erwerbenden Classen» noch die auf den sozialistischen «Staat der Allfürsorge» zielende «Reflexion» der «raisonnierenden Classen». Am Grund liegt eine Behauptung, mit der sich Osterhammel in direkten Gegensatz zu Burckhardt stellt. Weit ungenügender als der genau gleich alte Karl Marx behandle Burckhardt die Wirtschaft als Treibkraft der gesamtgeschichtlichen Entwicklung. Dem steht nicht nur entgegen, dass Burckhardt mit Blick auf das zeitgenössische Amerika und auf die von ihm beschriebene Globalisierung von der «rein erwerbenden Welt», mithin von der vom Kapitalismus regierten Zukunft gesprochen hat, sondern dass für ihn, was das Verhältnis von Staat und Kultur generell betraf, in allen Zeiten das zwischen Staat und Wirtschaft den Massstab darstellte: als die stärksten Beispiele der «Herrschaft des Staates über die Kultur» brandmarkt er – nach den Zuständen im alten Ägypten, bei den «Ynkas» und Azteken – diejenigen unter dem Hohenstaufenkaiser Friedrich II. und unter Ludwig XIV. mit ihren jeweiligen «Zwangsindustrien».

Der Bedeutung, die er der Wirtschaft als treibendem Moment der geschichtlichen Entwicklung beigemessen hat, entsprach die Definition der Kultur als einer «bewegenden geschichtlichen Macht» überhaupt. Sie stellte für ihn dar, was Osterhammel zitiert, aber nicht bereit ist, voll zu würdigen: den «Inbegriff all dessen, was zur Förderung des materiellen Lebens spontan zu Stande gekommen ist: alle Geselligkeit, Künste und Wissenschaften». Osterhammel glaubt dagegen fragen zu müssen, warum Burckhardt «nicht auch Ökonomie, Technologie, Umwelt (die alle bei Marx eine grössere Rolle spielen)» in seinen Begriff der Kultur als einer mit Staat und Religion konkurrierenden Potenz aufgenommen habe. Osterhammel beraubt Burckhardts Begriff der Kultur seiner revolutionären, alles Stehende und Ständische in Frage stellenden Kraft. Unverständlich bleibt, wie Burckhardt von der Kultur sagen konnte, dass sie – wie vor allem das eigene Jahrhundert zeigte – «unaufhörlich modifizierend und zersetzend auf die stehenden Einrichtungen der beiden anderen Potenzen einwirke» – als «Critik» sowohl des bestehenden Staates als auch der bestehenden Kirche.

So sehr man also auch den ersten Versuch begrüssen muss, das Verhältnis zwischen der Weltgeschichtsschreibung der Gegenwart und Jacob Burckhardt zu bestimmen, bleibt doch ein Bedauern über diese Unstimmigkeiten. Als letztes Beispiel sei erwähnt, was Osterhammel zu den zwei «Einzelfunden» ausführt, die man bei Burckhardt ganz unabhängig von Wert oder Unwert seiner Krisen- und Potenzenlehre machen könne, und mit denen er sich als «Stichwortgeber» und «Denkschule» einer weniger trockenen Weltgeschichtsschreibung empfehle. Zu diesen rechnet er Burckhardts «Idee der abgeschnittenen Krisen, also ihrer Steuerbarkeit durch Interventionen und crisis management» sowie das «noch fruchtbarere Konzept der sich kreuzenden Krisen», von denen Osterhammel meint, dass «man sie heute in der Welt vielfach vor sich sieht». Beide Charakterisierungen verfehlen das von Burckhardt Gemeinte. Napoleons III. Staatsstreich zur Coupierung des drohenden Sozialismus und Bismarcks Revolution von oben zur Rettung der dynastischen Herrschaft der Hohenzollern waren nach dem von Osterhammel ignorierten Exkurs über die «heutige Crisis» mehr und anderes als blosses Krisenmanagement; und speziell das Reichsgründungsgeschehen, von Burckhardt mit diesem Exkurs zu einer geschichtlichen Krise erhoben, war mehr als ein mit anderen Krisen nur zeitgleicher Vorgang. Für Burckhardt stellte es vielmehr eine Krise dar, die eine andere Krise «in den Schatten» und vermeintlich «still gestellt» hatte, nämlich die zuvor in allen deutschen Einzelstaaten, auch in Preussen, mächtig gewesenen «constitutionellen und sozialen Bestrebungen» der Zeit – nach Burckhardts, von Osterhammel leider verkannten Zeitdiagnose «die grosse Crisis des Staatsbegriffes, in welcher wir leben».

Zitierweise:
Dietrich, Pitt: Sammelrezension zu: Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. v. Jürgen Osterhammel München 2018 / Osterhammel, Jürgen: Jacob Burckhardts "Über das Studium der Geschichte" und die Weltgeschichtsschreibung der Gegenwart, Basel 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2), 2022, S. 309-311. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00108>.